Entdeckung der Einfachheit

Montag, grandioser Frühsommerabend, wir sitzen im Rathaus: Das IZKT (Internationales Zentrum für Kultur- und Technikforschung) und das SIS (Stuttgart Institute of Sustainability) laden in Kooperation mit uns, der Jugendinitiative der Nachhaltigkeitsstrategie Baden-Württemberg, zum Diskutieren über die „Entdeckung der Einfachheit" ein. Es geht um kurze Wege. Keine Ahnung, was uns erwartet und ungewöhnlich, eine Veranstaltung zu so einem zunächst „banal" wirkenden Thema wie dem Gehen zu besuchen. Es sitzen interessante Menschen auf dem Podium, der riesige Rathaussaal ist „luftig" gefüllt (das gute Wetter hat wohl für spontane Biergartenbesuche motiviert) und der Bürgermeister für Mobilität in der Stadt verrät, dass er später noch 5 km zu Fuß nach Hause läuft, weil gehen ihm so gut tut.

Warum gehen?

Während der Diskussion zeigt sich deutlich, welchen Wert das Gehen in der Stadt hatte, haben sollte und haben kann: entschleunigen, Bewegung ohne Joggingstress (ist besser für den Menschen, unterstreicht Wolfgang Schlicht von der Uni Stuttgart), Ausgeglichenheit, Päuschen auf der Parkbank machen, die Vögel im Baum wahrnehmen, Leute treffen, Schwätzchen halten, Gedanken fließen lassen.

Hört sich super an! Aber warum gehen nur noch wenige Menschen?

Gewohnheit macht uns unwillig für alternative Handlungen: Wer kommt schon auf die Idee zu gehen, statt sich in die Bahn, ins Auto oder aufs Fahrrad zu setzen? Patricia vom Jugendbeirat der Nachhaltigkeitsstrategie Baden-Württemberg hat diese Ausrede nicht gelten lassen und daher einen Selbstversuch unternommen: Sie ist eine Woche (fast) nur gelaufen, hat dabei die Vorzüge des Gehens entdeckt und davon auch auf dem Podium berichtet.

Viele Menschen beschweren sich, dass kleinere Stadtviertel und Dörfer oft nicht mehr alle lebensnotwenigen Geschäfte zusammen halten (Bäckerei, Hundefrisör, Gemüseladen, Tabakladen,...) – dies ist jedoch unter anderem dem Konsumentenverhalten selbst geschuldet. Oftmals kaufen die Leute auf dem Nachhauseweg von der Arbeit einfach kurz beim Riesen-Aldi ein außerhalb der (Kern)Stadt ein, der Wohnsitz bzw. dessen Umgebung ist nur noch zum Schlafen und Essen da – der öffentliche Raum der Begegnung geht verloren. Die Königstraße lädt zum Shoppingmarathon ein, aber es gibt kaum mehr Parkbänke dort. Die „alte Stadt" ist tot, sagt Hannelore Schlaffer. Die Zu-Fuß-Gehenden haben keine Lobby, die Wirtschaft kann an ihnen nicht wirklich verdienen und zudem benötigen sie nichts, außer einem schönen Trampelpfad und ein paar Ampeln – so die mutmaßliche Erklärung.

Was ist paradox?

Stuttgart wurde als Autostadt in den 50er und 60er Jahren aufgebaut und ist darauf ausgelegt, das Einwohner*innen täglich ca. 60km zurücklegen – mit dem Auto natürlich. Kopenhagen hat ein anderes Konzept: Es ist auf 5km-Wege ausgelegt, also für entspanntere Verkehrsteilnehmer*innen konzipiert. In Jena werden laut Professor Martin Lanzendorf (Goethe Uni Frankfurt) knapp 40% aller Strecken zu Fuß zurückgelegt, im bundesweiten Durchschnitt sind es 20%. Die Menschen in der Stadt haben seltener ein Auto, legen viele Wege mit der Bahn, dem Fahrrad oder zu Fuß zurück und stören sich eigentlich an viel Verkehr und zugeparkten Gehwegen. Diese Autos kommen oft von außen, weil  die Stadt mehr Arbeitsplätze bietet, der Bus- und Bahnverkehr nicht ausreicht, um täglich größere Strecken zurückzulegen und Arbeitende dafür jeden Tag zwei Stunden im Stau stehen. Bürger*innen wollen Grünflächen und Parks oder Cafés, anstatt eines weiteren Klamottenladens, aber die Stadt (wenn sie denn mitentscheiden darf) verdient eben mehr an kapitalistischen Interessenten. Ein lebenswerter Alltag in der Stadt heißt für viele Bürger*innen auch, weniger Verkehr – weniger Feinstaub – weniger Lärm zu ertragen. Die Autos müssen langfristig raus aus dem Städten.

Also EINFACH MACHEN:

Feiert die Stäffele, den Park, die Füße, die zum Gehen gemacht sind, geht zu Fuß! Kondition kommt mit der Zeit, also lasst euch nicht entmutigen. Trickst Eure Gewohnheiten aus. Unterstützt Eure kleinen Läden im Dorf oder Wohnviertel, denn nur dann können sie überleben und zur guten Lebensqualität beitragen. Macht Spaziergänge, entschleunigt Euch. Wenn ihr gute Fußgänger*innen-Ideen habt, die mit ein bisschen Geld schon umsetzbar sind, gibt es dafür auch Fonds bei der Stadt. Lest das Essay „Die City" (über den Untergang und die Kommerzialisierung der alten Stadt, bisschen traurig, aber provokant und sehr lesenswert) von Hannelore Schlaffer. Holt Euch Eure Viertel, Dörfer, Städte und vor allem eure Lebensqualität zurück!

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IZKT Nachhaltige Lebenswelten
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Fotos: JIN

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